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-   -   Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren? (http://www.quanten.de/forum/showthread.php5?t=3384)

TomS 31.07.18 15:55

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Nun, wenn du verschiedene mögliche Spinzustände s₁, s₂, ... hast, dann enthält dein Gesamt-Endzustand eine Auffächerung der Form

a₁|s₁,S₁> + a₂|s₂, S₂> + a₃ ...

Korrelation meint, dass dein Spinmessgerät genau so konstruiert sein muss, dass es diese spezielle Auffächerung mit den Komponenten |s₁,S₁>, ... gemäß der Dekohärenz erzeugt, und dass andere Komponenten wie |s₁,S₂>, ... unterdrückt sind.

Wenn du stattdessen ein anderes makroskopisches System hinstellst, dann wird auch irgendein Zustand entstehen, aber eben nicht diese Auffächerung. Und damit wäre dein Gerät eben kein Spinmessgerät.

Timm 31.07.18 15:58

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Bernhard (Beitrag 88244)
https://de.wikipedia.org/wiki/Interp...uantenmechanik . Dieses Vorhaben wird auch von A. Zeilinger unterstützt und eingefordert. In seiner Arbeit "A foundational principle for quantum mechanics", in Foundation of Physics, Band 29 (1999), S. 631–643 verweist er auf die Grundpostulate der Relativitätstheorie und das Fehlen von vergleichbaren Postulaten bei der QM.

Es wäre interessant, das zu lesen. Vermutlich geht es u.a. um den Kollaps der Wellenfunktion. Zeilinger ist ein ein Anhänger der Kopenhagener Interpretation, lehnt die Vorstellung eines Kollapses der WF aber ab. In seinem populärwissenschaftlichen Buch “Einsteins Schleier” schreibt er sinngemäß, ein mathematisches Konstrukt könne nicht kollabieren. Wenn ich es richtig sehe, handelt es sich somit um eine minimalistische Auffassung der KI.

Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zur Dekohärenztheorie, zu der Zeilinger selbst wichtige Beiträge liefert. Natürlich entzieht sie a priori der VWI den Boden, denn wenn es keinen Kollaps der WF gibt, erübrigt sich jede Strategie ihn zu vermeiden.

TomS 31.07.18 16:20

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 88265)
In seinem populärwissenschaftlichen Buch “Einsteins Schleier” schreibt er sinngemäß, ein mathematisches Konstrukt könne nicht kollabieren.

Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zur Dekohärenztheorie, zu der Zeilinger selbst wichtige Beiträge liefert. Natürlich entzieht sie a priori der VWI den Boden, denn wenn es keinen Kollaps der WF gibt, erübrigt sich jede Strategie ihn zu vermeiden.

Die orthodoxe QM kommt nicht ohne einen Kollaps aus - ob sie es nun so bezeichnet oder nicht. Mathematisch spricht man von einer Projektion.

Im Falle mehrerer aufeinanderfolgender Stern-Gerlach-artiger Experimente an einem Elektron mit zunächst

|up> + |down>

messe man in der ersten Messung z.B. "up".

In der darauf folgenden zweiten Messung am selben Elektron misst man dann sicher "up".

Nach der MWI + Dekohärenz ist dies klar, da der zweite Zweig dynamisch entkoppelt und keine Interferenz mehr auftreten kann.

Nach Kopenhagen o.ä. muss man jedoch annehmen, dass die erste Messung mit "up" der Präparation von |up> entspricht. Würde man auch für die zweite Messung den Zustand

|up> + |down>

ansetzen, so wäre weiterhin auch "down" mit 50% möglich, was offensichtlich falsch ist.

Die Projektion auf |up> ist also zwingend erforderlich!

Wenn man den Zustand nicht ontisch auffasst, dann ist das nicht weiter schlimm, insofern es nichts über die Realität aussagt. Man wird also den Kollaps "in der Realität" dadurch los, dass man verzichtet, über die Realität zwischen den Messungen zu reden. Aber man wird nicht die Projektion los.

***

Man sollte sich mal ernsthaft überlegen, welche Probleme die orthodoxe Interpretation wie löst:
1) sie sagt Messergebnisse korrekt vorher
2) sie verwendet einen in sich inkohärenten Begriffsrahmen, der von "Messung" spricht, ohne den Begriff definieren zu können, und der abhängig vom Vorliegen einer solchen "Messung" eine zweite ad hoc Regel anwendet, die einer anderen Regeln widerspricht

Die Anhänger der orthodoxen QM rechtfertigen (2) mit dem Erfolg von (1) und definieren alles andere zu Scheinproblemen. Die Gegner - und das ist nicht nur Everett - behaupten, dass die Anhänger der orthodoxen QM konsequent bei allen Fragen bzgl. (2) den Kopf in den Sand stecken. Ich halte die Everettsche QM in vielen Bereichen für noch unverstanden; evtl. ist sie sogar falsch. Aber ich schätze die Tatsache, dass ihre Anhänger über offene Probleme nachdenkt anstatt diese zu ignorieren oder gar zu leugnen. Man wird die QM nie verstehen, wenn man es nicht wenigsten versucht.

Timm 31.07.18 17:32

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 88266)

Im Falle mehrerer aufeinanderfolgender Stern-Gerlach-artiger Experimente an einem Elektron mit zunächst

|up> + |down>

messe man in der ersten Messung z.B. "up".

In der darauf folgenden zweiten Messung am selben Elektron misst man dann sicher "up".

Nach der MWI + Dekohärenz ist dies klar, da der zweite Zweig dynamisch entkoppelt und keine Interferenz mehr auftreten kann.

Nach Kopenhagen o.ä. muss man jedoch annehmen, dass die erste Messung mit "up" der Präparation von |up> entspricht. Würde man auch für die zweite Messung den Zustand

|up> + |down>

ansetzen, so wäre weiterhin auch "down" mit 50% möglich, was offensichtlich falsch ist.

Die Projektion auf |up> ist also zwingend erforderlich!


Wenn das “offensichtlich falsch ist”, weshalb ist das dann nicht der Garaus der KI?
Weshalb bleibt es nach der KI nicht bei up, wenn up aufgrund der ersten Messung bereits feststeht?

Hawkwind 31.07.18 17:49

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 88266)
Die orthodoxe QM kommt nicht ohne einen Kollaps aus - ob sie es nun so bezeichnet oder nicht. Mathematisch spricht man von einer Projektion.

Im Falle mehrerer aufeinanderfolgender Stern-Gerlach-artiger Experimente an einem Elektron mit zunächst

|up> + |down>

messe man in der ersten Messung z.B. "up".

In der darauf folgenden zweiten Messung am selben Elektron misst man dann sicher "up".

Nach der MWI + Dekohärenz ist dies klar, da der zweite Zweig dynamisch entkoppelt und keine Interferenz mehr auftreten kann.

Nach Kopenhagen o.ä. muss man jedoch annehmen, dass die erste Messung mit "up" der Präparation von |up> entspricht. Würde man auch für die zweite Messung den Zustand

|up> + |down>

ansetzen, so wäre weiterhin auch "down" mit 50% möglich, was offensichtlich falsch ist.

Nein, wesentlicher Teil der Kopenhagener Deutung ist die sog. Kollapshypothese: die Messung impliziert eine Reduktion der Wellenfunktion auf die Eigenfunktion zum gemessenen Wert, d.h. unmittelbar nach einer Messung würde nach KD eine 2. Messung derselben Observablen wiederum den gemessenen Wert produzieren (Impuls, Spin oder was auch immer), da sich die Wellenfunktion in einem Eigenzustand zum Messwert befindet.
---
Sehe grad: ich widerspreche dir gar nicht, denn du diskutierst was wäre KD ohne Kollaps.

Bernhard 31.07.18 18:30

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 88265)
Es wäre interessant, das zu lesen.

Schick mir ne PN mit deiner eMail-Adresse. Dann schicke ich es dir. Du solltest da aber nicht zu viel erwarten. Es handelt sich auch um eine Festschrift.

Zitat:

Vermutlich geht es u.a. um den Kollaps der Wellenfunktion.
Es geht vor allem um die Forderung und den Vorschlag einer Axiomatisierung der QM.

BTW: Je länger ich über den Vorgang einer Messung nachdenke, desto mehr erscheint mir eine informationstheoretische Beschreibung als sinnvoll. Man befreit damit recht elegant Schrödingers Katze von "immerwährenden Toden" und bekommt auch Hinweise auf die generelle Natur der QM.

Ich halte es für beispielsweise für plausibel, dass die QM vor allem deswegen entstanden ist, weil unser Wissen vom Mikrokosmos prinzipiell und technisch gesehen sehr unvollständig ist und das legt die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten nahe.

Timm 31.07.18 20:15

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 88268)
Nein, wesentlicher Teil der Kopenhagener Deutung ist die sog. Kollapshypothese: die Messung impliziert eine Reduktion der Wellenfunktion auf die Eigenfunktion zum gemessenen Wert,

Mich würde interessieren, was Du von Zeilinger’s Position hältst, wonach die Wellenfunktion nicht kollabiert. Damit entfällt auch die Nichtlokalität des Kollapses. Es “zieht sich nichts auf einen Punkt zusammen”, wenn die Wellenfunktion kein physikalisches Ding ist, sondern nichts weiter als eine Rechen Vorschrift.
Man müßte mal schauen, was Kritiker dazu sagen, die KI ohne Kollaps.

TomS 31.07.18 21:28

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 88267)
Wenn das “offensichtlich falsch ist”, weshalb ist das dann nicht der Garaus der KI?
Weshalb bleibt es nach der KI nicht bei up, wenn up aufgrund der ersten Messung bereits feststeht?

Ich erkläre doch gerade, dass die KI nicht falsch ist, wenn die Projektion angewandt wird; diese ist im Falle wiederholter Messungen zwingend.

Wenn Zeilinger eine orthodoxe QM ohne Kollaps befürwortet, dann klingt dies für mich so, als ob er einen Kollaps des realen Systems ausschließt, jedoch eine Pojektion des Zustandsvektors anwendet. Das ist natürlich konsistent, jedoch um den Preis, dass er auf jegliche Beschreibung des realen Systems vollständig verzichten muss.

Zeilinger kann das natürlich konsistent anwenden, er ist damit sicher nicht der erste, ich persönlich halte diese Interpretation jedoch für nicht überzeugend.

Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 88270)
Mich würde interessieren, was Du von Zeilinger’s Position hältst, wonach die Wellenfunktion nicht kollabiert. Damit entfällt auch die Nichtlokalität des Kollapses. Es “zieht sich nichts auf einen Punkt zusammen”, wenn die Wellenfunktion kein physikalisches Ding ist, sondern nichts weiter als eine Rechen Vorschrift.
Man müßte mal schauen, was Kritiker dazu sagen, die KI ohne Kollaps.

Ich wäre mit dem Sprachgebrauch vorsichtig. Ob du es Kollaps oder Projektion nennst, ist letztlich egal. Es gibt da auch keine einheitliche Sicht, die Kopenhagener Schule hat auch nie einen wirklich eindeutigen Sprachgebrauch entwickelt.

Natürlich muss man nicht annehmen, dass etwas Reales kollabiert, wenn man vollständig darauf verzichtet, dass der Formalismus der QM irgendeinen realen Vorgang beschreibt.

Aber man kann nie auf die Projektion des Zustandsvektors oder der Wellenfunktion verzichten, andernfalls sind die Vorhersagen im Falle wiederholter Messungen falsch.

Man kann also lediglich die Position einnehmen, dass die Projektion des Zustandsvektors keinem real stattfindenden Kollaps entspricht. Wie gesagt, ich halte das für unbefriedigend.

TomS 31.07.18 21:47

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von Bernhard (Beitrag 88269)
Je länger ich über den Vorgang einer Messung nachdenke, desto mehr erscheint mir eine informationstheoretische Beschreibung als sinnvoll. Man befreit damit recht elegant Schrödingers Katze von "immerwährenden Toden" und bekommt auch Hinweise auf die generelle Natur der QM.

Ich halte es für beispielsweise für plausibel, dass die QM vor allem deswegen entstanden ist, weil unser Wissen vom Mikrokosmos prinzipiell und technisch gesehen sehr unvollständig ist und das legt die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten nahe.

Das ist lediglich eine der modernen Spielarten der orthodoxen Interpretation: der Zustandsvektor kodiert unser Wissen über das System; die Projektion entspricht einem Zuwachs an Wissen.

Ich persönlich halte diese informationstheoretische Sicht für genauso unbefriedigend wie die „alte Kopenhagener Schule“.

Timm 31.07.18 22:36

AW: Kann man Everetts "reine Quantenmechanik" noch weiter ignorieren?
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 88271)
Das ist natürlich konsistent, jedoch um den Preis, dass er auf jegliche Beschreibung des realen Systems vollständig verzichten muss.

Es bleibt wie häufig bei Diskussionen dieser Art bei subjektiven Standpunkten. Etwa so, der Verzicht auf die Beschreibung des realen Systems (der ja die Richtigkeit der Vorhersagen nicht tangiert) fällt leichter als die Vielen Welten als ebenso real anzunehmen, wie unsere täglich erlebte Welt.


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