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-   -   Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig (http://www.quanten.de/forum/showthread.php5?t=3602)

Timm 08.04.19 11:28

Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
http://theo.physik.uni-konstanz.de/c...ssen_final.pdf

Ich hatte Dekohärenz eher als unterstützend für die MWI angesehen.

Dem wird hier widersprochen. Zu recht? Oder unterliegt Cord A. Müller einem Mißverständnis?

Zitat:

Wir halten als wichtiges Zwischenergebnis fest: Irreversibilität ist konstitutiv fur eine Messung. Eine Diskussion des Messprozesses auf der Grundlage abgeschlossener Systeme und mit unitärer Dynamik allein ist sinnlos, denn sie missversteht, was eine Messung eigentlich ausmacht. Wir müssen auf die in den Badfreiheitsgraden gespeicherte Information verzichten, wenn wir sinnvoll über die Ergebnisse von Messungen sprechen wollen, d.h. über definitive Detektorklicks und Zeigerpositionen. Wenn wir aber die Badfreiheitsgrade ausspuren, dann verschwinden die kohärenten Interferenzterme im gemeinsamen Zustand von Objekt und Messgerät,
um einer Verteilung mit inkohärenten, klassischen Wahrscheinlichkeiten Platz zu machen. Man nennt deshalb diesen Effekt Dekohärenz.
.....
Ein Großteil dessen, was historisch zuweilen als ”Messproblem“ gehandelt wurde, beruht auf einem Missverständnis darüber, was eine Messung ausmacht. Bei einer sorgfältigen Analyse des Messprozesses wird klar, dass es weder zu einem infiniten Regress der Verschränkung kommt (und deshalb Viele-Welten-Interpretationen unnötig sind) noch dass es innerhalb der Quantentheorie einen Widerspruch zwischen der unitären Dynamik einerseits und dem Projektionspostulat andererseits gibt. Im Gegenteil, wir werden sehen, dass Realität und Objektivität im wesentlichen emergente Phänomene sind, die mit dem epistemisch konsistenten Vokabular der Quantentheorie erklärt werden können.


TomS 08.04.19 23:15

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91137)
Ich hatte Dekohärenz eher als unterstützend für die MWI angesehen.

Dem wird hier widersprochen. Zu recht? Oder unterliegt Cord A. Müller einem Mißverständnis?

Ich habe jetzt nur deine Zusammenfassung gelesen, aber die Idee, die Dekohärenz mache die VWI oder irgendeine andere Interpretation überflüssig - oder löse gar das Messproblem vollständig - ist ein verbreitetes Missverständnis und letztlich völlig falsch!

Schauen wir uns mal an, was die Dekohärenz für Schrödingers Katze besagt: Die kohärente Superposition „tot und lebendig“ erscheint bei Unterdrückung der Umgebungsfreiheitsgrade näherungsweise als „entweder tot oder lebendig“. D.h. die Dekohärenz liefert uns die bekannten klassische Sichtweisen bzw. klassischen Alternativen.

Wir sehen jedoch nicht „entweder tot oder lebendig“‚ sondern entweder „tot“ oder „lebendig“. Und genau das liefert die Dekohärenz nicht! Sie liefert immer alle klassischen Alternativen, nicht jedoch genau eine davon.

D.h. man benötigt trotzdem noch einen Kollaps, deBroglie-Bohm, Ensembles, Everett, ... oder ähnliches.

Timm 09.04.19 10:53

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 91138)
Ich habe jetzt nur deine Zusammenfassung gelesen, aber die Idee, die Dekohärenz mache die VWI oder irgendeine andere Interpretation überflüssig - oder löse gar das Messproblem vollständig - ist ein verbreitetes Missverständnis und letztlich völlig falsch!

Schlimm, daß ein theoretischer Physiker, der sich (vermutlich) damit eingehend beschäftigt hat, "völlig falsch" liegt. Könnte es sein, daß er nicht falsch liegt, sondern es schlicht anders sieht als du?

Könntest du aus dem Zitat in der OP Aussagen aufzeigen, die falsch sind und dies jeweils begründen. Das wäre im Vergleich zu pauschal falsch außerordentlich hilfreich.
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 91138)
Schauen wir uns mal an, was die Dekohärenz für Schrödingers Katze besagt: Die kohärente Superposition „tot und lebendig“ erscheint bei Unterdrückung der Umgebungsfreiheitsgrade näherungsweise als „entweder tot oder lebendig“. D.h. die Dekohärenz liefert uns die bekannten klassische Sichtweisen bzw. klassischen Alternativen.

Wir sehen jedoch nicht „entweder tot oder lebendig“‚ sondern entweder „tot“ oder „lebendig“.

Eben, entweder „tot“ oder „lebendig“, wie bei Unterdrückung der Umgebungsfreiheitsgrade zu erwarten.

Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 91138)
Und genau das liefert die Dekohärenz nicht! Sie liefert immer alle klassischen Alternativen, nicht jedoch genau eine davon.

Das klingt wie eine unbestreitbare Tatsache, ist aber Interpretation.

Ich fasse mal zusammen, wie ich Cord A. Müller verstanden habe:

Dekohärenz führt dazu, daß die Superposition irreversibel in einen festen Zeigerzustand zerfällt, in welchen der möglichen ist Zufall. Weil irreversibel entfallen damit die Bad-Freiheitsgrade (werden ausgespurt) und verschwinden somit die Interferenz-Terme, weshalb die unitäre Dynamik nicht verletzt ist.

TomS 09.04.19 23:39

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91141)
Schlimm, daß ein theoretischer Physiker, der sich (vermutlich) damit eingehend beschäftigt hat, "völlig falsch" liegt. Könnte es sein, daß er nicht falsch liegt, sondern es schlicht anders sieht als du?

Nein. Er sieht dies entweder falsch, oder er wendet implizit eine Interpretation an, ohne dies explizit klarzustellen.

Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91141)
Eben, entweder „tot“ oder „lebendig“, wie bei Unterdrückung der Umgebungsfreiheitsgrade zu erwarten.

Nein, die Unterdrückung der Umgebungsfreiheitsgrade liefert eben nicht entweder „tot“ oder „lebendig“, sondern „entweder tot oder lebendig“.

Ohne Dekohärenz liefert die quantemechanische Berechnung

(|tot> + |lebendig>)(<tot| + <lebendig|)

Mit Dekohärenz finden wir in sehr guter Näherung (*)

|tot><tot| + |lebendig><lebendig|

Beobachtet wir jedoch z.B.

|tot><tot|

(oder alternativ |lebendig><lebendig|).

Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91141)
Das klingt wie eine unbestreitbare Tatsache, ist aber Interpretation.

Das ist keine Interpretation sondern tatsächlich eine mathematische Tatsache.

In der Realität “verschwindet” im Zuge der Beobachtung eine Alternative, in der Mathematik verschwindet dagegen keine.

Erst nach der Beobachtung kannst du eine von beiden streichen, aber das ist eben nicht das Ergebnis der Dekohärenz, sondern das bewusste Streichen der nicht-beobachteten Alternative.

Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91141)
Ich fasse mal zusammen, wie ich Cord A. Müller verstanden habe:

Dekohärenz führt dazu, daß die Superposition irreversibel in einen festen Zeigerzustand zerfällt, in welchen der möglichen ist Zufall.

Das ist falsch.

Dekohärenz führt dazu, daß die Superposition irreversibel in eine inkohärente Superposition zweier Zeigerzustände zerfällt - s.o. (*)

Dass einer davon zufälligerweise beobachtet wird, ist nicht Ergebnis der Dekohärenz, sondern einer zusätzlichen stochastischen Interpretation. Eine andere Interpretation z.B. nach Everett behauptet auf Basis des selben Dekohärenzmechanismus, dass beide Zeigerzustände real bleiben und dass beide beobachtet werden.

Die Dekohärenz liefert nur die Hälfte der Story. Sie ersetzt nicht die Interpretation, denn die enthält im Ergebnis immer noch beide Zweige.

Siehe z.B. hier Seite 7 ff.

http://www.physikdidaktik.uni-karlsr...p09/06_zeh.pdf

Hawkwind 10.04.19 14:49

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91137)
http://theo.physik.uni-konstanz.de/c...ssen_final.pdf

Ich hatte Dekohärenz eher als unterstützend für die MWI angesehen.

Dem wird hier widersprochen. Zu recht? Oder unterliegt Cord A. Müller einem Mißverständnis?

Mhm, das referenzierte pdf scheint es leider schon nicht mehr zu geben.
M.W. liegt Tom hier aber richtig; es besteht allgemeiner Konsens, dass die Ansätze zur Dekohärenz die Interpretationen der Quantentheorie nicht überflüssig machen.
---
Er (Müller) scheint zumindest nichts über das Messproblem publiziert zu haben:
https://scholar.google.de/citations?...AJ&hl=en&oi=ao

Timm 10.04.19 18:16

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 91143)
Das ist falsch.

Dekohärenz führt dazu, daß die Superposition irreversibel in eine inkohärente Superposition zweier Zeigerzustände zerfällt - s.o. (*)

Dass einer davon zufälligerweise beobachtet wird, ist nicht Ergebnis der Dekohärenz, sondern einer zusätzlichen stochastischen Interpretation. Eine andere Interpretation z.B. nach Everett behauptet auf Basis des selben Dekohärenzmechanismus, dass beide Zeigerzustände real bleiben und dass beide beobachtet werden.

Zitat:

Ein Großteil dessen, was historisch zuweilen als ”Messproblem“ gehandelt wurde, beruht auf einem Missverständnis darüber, was eine Messung ausmacht. Bei einer sorgfältigen Analyse des Messprozesses wird klar, dass es weder zu einem infiniten Regress der Verschränkung kommt (und deshalb Viele-Welten-Interpretationen unnötig sind) noch dass es innerhalb der Quantentheorie einen Widerspruch zwischen der unitären Dynamik einerseits und dem Projektionspostulat andererseits gibt. Im Gegenteil, wir werden sehen, dass Realität und Objektivität im wesentlichen emergente Phänomene sind, die mit dem epistemisch konsistenten Vokabular der Quantentheorie erklärt werden können.
Ist das tatsächlich falsch oder Interpretation, wofür ich es gehalten habe.

Timm 10.04.19 18:26

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 91146)
Mhm, das referenzierte pdf scheint es leider schon nicht mehr zu geben.
M.W. liegt Tom hier aber richtig; es besteht allgemeiner Konsens, dass die Ansätze zur Dekohärenz die Interpretationen der Quantentheorie nicht überflüssig machen.

Für mich war die Irreversibilität durch Dekohärenz als Argument für eine feste Zeigerstellung neu.
Aus meiner Sicht ist das Interpretation aber nicht falsch. Aber vielleicht liege ich da verkehrt.

Bei mir funktioniert der link.

sirius 10.04.19 18:35

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91149)
Für mich war die Irreversibilität durch Dekohärenz als Argument für eine feste Zeigerstellung neu.
Aus meiner Sicht ist das Interpretation aber nicht falsch. Aber vielleicht liege ich da verkehrt.

Bei mir funktioniert der link.

Ich konnte den Link auch öffnen

Hawkwind 10.04.19 19:33

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
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Der Server der Uni Konstanz sagt, diese Seite gibt es nicht (mehr):

TomS 10.04.19 22:06

AW: Dekohärenz macht die Vielen-Welten überflüssig
 
Zitat:

Zitat von Timm (Beitrag 91148)
Ist das tatsächlich falsch oder Interpretation, wofür ich es gehalten habe.

Ich halte den Artikel an einigen Stellen für explizit falsch - s.o. - sowie insgs. für wenig präzise und hilfreich. Das beginnt damit, dass er noch nicht mal in einem Kontext anderer Veröffentlichungen und Interpretationen gestellt wird.


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