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Alt 24.10.10, 19:06
Hawkwind Hawkwind ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Gravitationsgeschwindigkeit.. Gibt es das überhaupt?

Da es einige Verwirrung gibt, soll einmal der theoretische wie experimentelle Status der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Gravitation zusammengefasst werden. Dazu übersetze ich das Fazit von Prof. Carlip aus den Astronomy FAQs

Does gravity travel at the speed of light?

Carlip ist u.a. bekannt für seine Widerlegung der Behauptungen einer instantanem Gravitationsausbreitung des Astrophysikers Van Flandern, welche dieser in einem Papier publiziert hatte. Dieses Thema wird hier auch angeschnitten (die unten erwähnten Effekte durch Laufzeitverzögerung ("Retardierung")).

Meine unautorisierte, z.T. sehr freie Übersetzung:

Zitat:
Zitat von Uebersetzung
Zuallererst, die Geschwindigkeit von Gravitation ist noch nie direkt im Labor gemessen worden---die gravitative Wechselwirkung ist zu schwach und solch ein Experiment ist jenseits der gegenwärtigen techinischen Möglichkeiten. Die "Geschwindigkeit der Gravitation" muss deshalb aus astronomischen Beobachtungen abgeleitet werden, und die Antwort hängt davon ab, mit welchem Modell der Gravitation man diese Beobachtungen beschreibt.

Im einfachen Newtonschen Modell propagiert Gravitation instantan; die Kraft, die ein massives Objekt ausübt, zeigt unmittelbar auf die gegenwärtige Position des Objektes. Obwohl z.B. die Entfernung der Sonne von der Erde 500 Lichtsekunden beträgt, zeigt die Kraft auf die Erde auf die momentane Position der Sonne, und nicht auf die, die sie vor 500 Sekunden eingenommen hatte. Eine Erweiterung der Newtonschen Gravitation um eine entsprechende "Laufzeit-Verzögerung" ("Retardierung"), würde die Orbite instabil machen und klar im Widerspruch zu den Beobachtungen vom Sonnensystem stehen.

In der Allgemeinen Relativität andererseits breitet sich Gravitation mit Lichtgeschwindigkeit aus, d.h., die Bewegung eines massiven Objektes erzeugt eine Verzerrung der Raumzeitkrümmung, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Dies scheint den oben beschriebenen Beobachtungen im Sonnensystem zu widersprechen, aber man sollte sich daran erinnern, dass die Allgemeine Relativität sich konzeptuell stark von der Newtonschen Gravitation unterscheidet. sodass ein direkter Vergleich nicht ganz einfach ist. Streng genommen ist Gravitation im Sinne der Allgemeinen Relativität keine Kraft und eine Beschreibung mittels Begriffen wie Geschwindigkeit und Richtung ist "tricky". Für schwache Felder kann man die Theorie jedoch in einer Art Newtonschen Sprache beschreiben. Man findet für diesen Fall, dass die "Kraft" in der Allgemeinen Relativität nicht 100%ig zentral wirkt--sie zeigt nicht auf die Quelle der Gravitation--und sie hängt sowohl vom Ort der Quelle als auch von deren Geschwindigkeit ab. Der Netto-Effekt ist, dass der Effekt der Laufzeitverzögerung sich nahezu exakt "heraus-kürzt", und die Allgemeine Relativität das Newtonsche Resultat ziemlich exakt reproduziert.

Dieses Herausfallen der Laufzeitverzögerung erscheint nicht so merkwürdig, wenn man sich klar macht, dass es in der Elektrodynamik eine ähnliche Situation gibt. Wenn sich eine Ladung mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, so übt sie eine Kraft aus, die auf ihre gegenwärtige Position und nicht auf die retardierte Position zeigt, obwohl sich die elektromagnetische Wechselwirkung sicherlich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Hier wie in der Allgemeinen Relativität konspirieren die Eigenheiten der Natur der Wechselwirkung derart, dass der Effekt der Laufzeitverzögerung nicht zutage tritt. Dieser Effekt wird keinesfalls den Theorien ad hoc hinzugefügt, sondern ergibt sich von selbst aus den Gleichungen. Exaktes Herausfallen dieses Effektes ergibt sich auch nur für konstante geschwindigkeiten. Wenn ein geladenes Teilchen oder eine gravitierende Masse plötzlich beschleunigen, so breitet sich die entsprechende Änderung im elektrischen bzw. im Schwerefeld mit Lichtgeschwindigkeit aus.

Da dieser Punkt recht verwirrend sein kann, ist es angebracht, ihn ein wenig tiefergehend und technischer zu beleuchten. Wir betrachten 2 Körper A und B die entweder durch elektrische oder durch Schwerkraft auf gegenseitige Umlaufbahnen gezwungen werden. Solange die Kraft auf A direkt nach B zeigt und umgekehrt, ist ein stabiler Umlauf möglich. Wenn aber die Kraft auf A auf die retardierte (laufzeitverzögerte) Position von B zeigt, so bedeutet dies, dass die Kraft auf A eine zusätzliche nichtzentrale Komponente hat, die Instabilität des Orbits und Verletzung der Drehimpulserhaltung bewirkt (Drehimpulserhaltung ist typisch für Zentralkraftprobleme - Anmerkung des Übersetzers). Aber der Gesamtdrehimpuls des zusammengesetzten Systems ist eine Erhaltungsgröße und so eine Änderung kann es nur geben, wenn Drehimpuls durch elm. oder gravitative Strahlung wegtransportiert wird.

In der Elektrodynamik strahlt eine sich gleichförmige bewegende Ladung aber nicht, d.h. eine Ladung, die sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, verliert keinen Drehimpuls. Es muss in der Theorie also einen Mechanismus geben, der die Instabilität aufgrund von Laufzeitverzögerungen teils aufhebt. Das ist genau das, was passiert: eine rechnung zeigt, dass die Kraft auf A nicht auf B's retardierte Position zeigt, sondern auf B's "linear extrapolierte" retardierte Position. Ähnlich ist es in der Allgemeinen Relativität: eine Masse, die sich mit konstanter Beschleunigung bewegt strahlt nicht (hatten wir hier in einem Thread erst kürzlich - Anmerkung des Übersetzers); aus Konsistenzgründen muss es in der ART also sogar eine noch vollständigere Herausköschung des Laufzeitverzögerungseffektes geben. Das ist in der Tat genau das, was man findet, wenn man die Bewegungsgleichungen der Allgemeinen Relativität löst.

Zwar leisten gegnwärtige Beobachtungen noch keine modellunabhängige Messung der Geschwindigkeit der Gravitation, jedoch testet die beobachtung des binären Pulsars PSR 1913+16 die ART. Der Orbit dieses binären Pulsars nimmt mit der Zeit ab und diesee Verhalten kann auf den Energieverlust durch Gravitationsstrahlung zugeschrieben werden. In jeder Feldtheorie hängt aber Abstrahlung aufs Engste zusammen mit der endlichen Geschwindigkeit der Feldausbreitung und die orbitalen Veränderungen durch Gravitationsstrahlung kann als eine Dämpfung aufgrund der endlichen Propagationsgeschwindigkeit angesehen werden. (In obiger Diskussion bedeutet diese Dämpfung die nicht-exakte Aufhebung des angesprochenen Lufzeitverzögerungseffektes: ein nicht-zentraler geschwindigkeitsabhängiger Effekt bleibt übrig.)

Die Rate dieser Dämpfung ist berechenbar und man findet, dass sie von der Propagationsgeschwindigkeit der Gravitation abhängt. Diese Beobachtung der gravitativen Dämpfung ist also ein starkes Indiz dafür, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht unendlich ist. Man kann die ART nutzen, um von der beobachteten Dämpfung auf die Höhe der Ausbreitungsgeschwindigkeit zu schließen. Die aktuellen Zahlen bestätigen, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitation nicht mehr als 1% von der Lichtgeschwindigkeit abweicht. (Die Beobachtung eines weiteren binären Pulsars PSR B1534+12 bestätigt dieses Resultat ebenfalls, wenn auch mit nicht so hoher Präzision.)

Gibt es in der nahen Zukunft Aussichten für eine direkte Messung der Geschwindigkeit der Gravitation ? Eine Möglichkeit ist der Nachweis von Gravitationswellen einer Supernova. Der Nachweis von Gravitationsstrahlung und Neutrino-Burst in demselben Zeitfenster, gefolgt von einer späteren visuellen Identifikation der Supernova, wäre ein starker Hinweis auf die Gleichheit von Gravitations- und Lichtgeschwindigkeit. Wenn jedoch nicht so bald eine nahe Supernova auftritt, wird es noch einige Zeit dauern, bis Gravitationswellendetektoren sensitiv genug für solche Tests sein werden.

Literaturhinweise:

Es scheint keine nicht-technischen Ausführungen zu diesem Thema zu geben. Für ein technisches Papier siehe

T. Damour, in _Three Hundred Years of Gravitation_, S.W. Hawking and
W. Israel, editors (Cambridge Univ. Press, 1987)

Eine gute Darstellung der Situation in der Elektrodynamik findet man bei

R.P. Feynman, R.B. Leighton, and M. Sands, _The Feynman Lectures on
Physics_, chapter II-21 (Addison-Wesley, 1989)
Viel Spaß damit.
Hawkwind

Ge?ndert von Hawkwind (24.10.10 um 19:10 Uhr)
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