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Alt 07.04.12, 18:43
Petruska Petruska ist offline
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Standard AW: Gibt es vom Standpunkt der Physik eine wissenschaftlich existierende « Allgemeine

Systemtheoretiker werfen regelmäßig „den“ Physikern ihr angeblich starrsinniges Festhalten am „analytischen Denken“ vor. Im französischen Sprachraum – das ist meiner; ich bin in Deutschland aufgewachsen, alles in allem zweisprachig, meine tägliche Denk- und Arbeitsprache ist aber französisch – im französischen Sprachraum also zirkulieren die Ausdrücke „pensée réductionniste“ und „réductionnisme“; die sind als schlimme Schimpfwörter für analytisches Denken gemeint. Da klingen Sachen mit wie Unfähigkeit, etwas als ein Ganzes zu erkennen, etwas in seinem Zusammenhang zu sehen, usw. Ich nehme an, „Reduktionismus“ bezeichnet im deutschen Sprachraum das Gleiche.

Wie es auch sei, glaube ich, dass 1° das analytische Denken, wenn es auch nicht die universelle Gültigkeit besitzt, die man ihm früher zuschrieb, keineswegs jedoch die Herablassung verdient, mit der gewisse Systemtheoretiker darauf herab blicken, und 2° dass die Physik durchaus im eigenen Interesse die Existenz eines wissenschaftlichen System erwünschen muss, wo „das Ganze mehr bedeutet als die Summe der Teile“.

Was den Punkt 1° anbetrifft, liegt doch folgendes auf der Hand. Wenn nicht einige Denker der Spätrenaissance und des 17ten Jahrhunderts die geniale Intuition gehabt hätten, dass man von der Untersuchung einfachster Zusammenhänge ausgehen kann, um komplexere Erscheinungen zu erforschen (Galileo), oder dass man Komplexitäten verstehen kann, wenn man sie in ihren einfacheren „Teile“ zerlegt (Descartes), dann wäre die Physik nicht entstanden, und wir säßen nicht vor unseren Computern, um zu diskutieren, weil es ja keine gäbe.
Es existieren nun mal Phänomene, die sich für einen analytischen Ansatz eignen, und da braucht man ja wohl nicht daran erinnern, was die Physik wissenschaftlich geleistet hat.

Allerdings gibt es natürlich bedeutend mehr Erscheinungen, wo das analytische Denken fehl am Platz ist; einige betreffen die Physik. Wenn man z. B. steigende Entropie – etwas vereinfacht – als Tendenz, bei einem gegebenen System, von der Ordnung zur Unordnung erklärt, dann muss man feststellen, dass die Begriffe „Ordnung“ und „Unordnung“ sich nicht von vorne hin für einen analytischen Ansatz eignen. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Thermodynamik im Rahmen der Physik irgend wie einen Spezialfall darstellt. Über Irreversibilität ist weiß Gott diskutiert worden (Reichenbach, Grünbaum, Carnap, S. Watanabe, O. Costa de Beauregard ..... ) und wird noch immer diskutiert..
Die Physik bräuchte schon eine Erweiterung im Sinne einer allgem. Systemtheorie, aber, und damit kommen wir zu Punkt 2°, gibt es eine solche in einer Form, womit die Physik etwas anfangen kann?
Letzter Punkt erfordert eine genauere Problemstellung. Persönlich sehe in der IDEE einer vom Standpunkt der Physik relevanten Systemtheorie eine potentielle Ressource, beim Quanten-Emergenz-Problem weiterzukommen. Fassen wir das erst mal schnell zusammen.

Zahlreiche Erscheinungen der Makrowelt können weder direkt, noch indirekt auf die Gesetze der Quantenebene zurückgeführt werden. Man muss sich also fragen, von wo diese Makro-Erscheinungen herkommen. Da die Quantenwelt als Ursprung ausscheidet, scheint es angebracht, davon auszugehen, dass besagte Erscheinungen irgendwie aus der Makrowelt selbst „auftauchen“.
Hier bieten sich systemtheoretische Erwägungen als mögliche Spur an. In der Tat sind Systemeffekte Makro-Erscheinungen, deren globale Eigenschaften nicht direkt auf einfachere/fundamentalere Gegebenheiten des betrachteten Systems zurückgeführt werden können. Solche Effekte sind gang und gäbe. Da ich schon im letzten Beitrag
http://www.quanten.de/forum/showthre...67541#poststop
darüber schon hübsch doziert habe, sei es mir dem Zusammenhang zuliebe erlaubt, den entsprechenden Abschnitt hier nochmals rüberzukleben.
Ein typischer Systemeffekt besteht im Menschenmengen-Effekt (effet de foule)
Eine Menschenmenge verhält sich kollektiv gesehen anders als die Einzelmenschen die die Menge bilden. Ich habe vor vielen Jahren ein Experiment durchgeführt, um an Wissenschaftstheorie interessierten Studenten/innen mit Physik-Hintergrund DIE GRENZEN DES ANALYTISCHEN DENKENS DARZULEGEN. Die Studenten und ich baten aleatorisch ausgewählte Einzelmenschen, vor einem leeren Bildschirm zu applaudieren. Die einen weigerten sich, "einen solchen Blödsinn zu machen"; andere taten uns den Gefallen, patschten 3-4mal die Hände zusammen, drückten aber durch Achselzucken, Kopfschütteln usw. ihre Verwunderung und mehr aus. Dann verteilten wir uns, die Studenten und ich, mehrmals hintereinander im Zuschauerraum von Kinos und applaudierten mächtig vor dem leeren Schirm, den es damals zwischen einer Reklame- und Vorspannserie gab. Diesmal applaudierte das Publikum kräftig mit, im Schnitt immerhin 7 Sekunden, und von ganzem Herzen. Wir wiederholten das mal vor Krimis oder Westerns, dann bei sog. anspruchsvollen Filmen; jedesmal gab es den selben Effekt. Das sog. "breitere Publikum" verhielt sich genau so wie das sog. "gehobene Publikum."
Wir haben hier einen typischen Systemeffekt: Da dieser Globaleffekt nicht auf die Eigenschaften der Einzelmenschen zurückzuführen ist, muss er also irgendwie aus der Menge als solcher AUFTAUCHEN, "emergieren".
Es wäre jetzt interessant, diesen Gedankengang zu verallgemeinern: ALLE MAKROPHÄNOMENE, DIE MAN NICHT AUF DIE FUNDAMENTALERE QUANTENEBENE ZURÜCKFÜHREN KANN, MÜSSTE MAN ALS AUS DER MAKROWELT AUFTAUCHENDEN SYSTEMEFFEKTE ERKLÄREN KÖNNEN.

Ja, aber dafür bräuchte man eine ausreichend formalisierte Systemtheorie, und genauer gesagt, einen systemtheoretisch/mathematischen Formalismus, der die Formalismen der Makro-und Mikrophysik verlängert oder besser noch als Spezialfall beinhaltet? Gibt es das wirklich? Ich persönliche bezweifle es, gerade deshalb, weil selbst versuche, daran zu arbeiten.
Natürlich ist man sich alles im allen bewusst geworden, dass bei vielen Makro-Erscheinungen „das Ganze mehr ist als die Summe der Teile“, wie zum Beispiel beim obengenannten Menschenmengen-Effekt, und dass hier analytisches Denken an seine Grenzen stößt. Deshalb setzt sich Systemtheorie als GEISTESHALTUNG mehr und mehr durch.
Wenn sich jetzt aber fragt, wie man gesagten Systemtheoriegrundsatz „das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“ formalisiert, und zwar den oben angeführten Bedingungen gemäss – ich möchte am Rande bemerken, dass die „Summe“ hier als analytisch-lineare, also unerwünschte Resonanz schon irgendwie störend wirkt – dann wird es kompliziert.
Die sog. „Schule von Palo Alto“ hatte damals zwischen dem „changement 1“ und dem „changement 2“ unterschieden. Das erste betrifft nur die Parameter und erlaubten Variablen des Systems, während letzteres als solches sich nicht verändert. Das „changement 2“ verändert das system als solches. Das ist rein KONZEPTUEL GESEHEN ein interessanter Ansatz. Da das ganze aber nie richtig formalisiert worden ist, hat es auf Seiten der Physik so gut wie keinen Anklang gefunden.
„Sur le terrain“ sind Disziplinen entstanden, die man in den Überbegriff „Systemtheorie“ einreiht , oder zumindest damit in Zusammenhang bringt, wie Kybernetik, Spieltheorie, Chaostheorie und anderes. RoKo weist darauf hin, dass es in Osnabrück jetzt einen Lehrstuhl für Systemwissenschaft gibt. Natürlich ist Institutionalisierung eine wichtige Etappe im Werden und Werdegang einer Wissenschaft.
ABER, bilden die in „Systemwissenschaft“ zusammengefassten Disziplinen eine nach den oben angeführten Bedingungen FORMALISIERTE EINHEIT?

(Fortsetzung folgt gleich.)
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