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Alt 26.06.21, 10:38
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Sind die Interpretationen der Quantenmechanik mehr als nur Geschichten?

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Wikipedia erwähnt " ... illustrating the paradox of the collapse of a spherically symmetric wave function into the linear tracks seen in a cloud chamber."

Ich sehe allerdings zunächst nicht, dass der Kollaps als solcher infrage steht.
Zunächst mal zeigt Mott’s Berechnung explizit, dass hier kein irgendwie gearteter Kollaps benötigt wird, weder zur Berechnung noch zur Interpretation. Er kommt schlicht an keiner Stelle vor.

Historisch betrachtet wurde dieses Experiment gegen den „Kollaps nach Kopenhagen im engeren Sinne“ angeführt. Dieses lautet: Unmittelbar nach einer Messung der Observablen A mit Ergebnis a befindet sich das System in einem Eigenzustand |a> zu A mit eben diesem Eigenwert a.

Dieses Postulat ist im vorliegenden Fall sicher experimentell falsifiziert!

Zunächst mal zur Begründung von Neumanns: Wenn in einer Messung einer Observablen A ein Eigenwert a zu A beobachtet wird und direkt anschließend eine zweite Messung von A durchgeführt wird, so erhält man mit Wahrscheinlichkeit Eins den selben Messwert a. Demnach muss nach der ersten Messung der Eigenzustand |a> vorliegen. Soweit klingt das plausibel.

Das Problem ist zunächst der nach von Neumann zu eng aufgefasste Messprozess, der postuliert, dass immer Eigenwerte zu Observablen auftreten, also exakt scharfe Messwerte und demnach exakt definierte Eigenzustände. Man beachte, dass nach von Neumann die Unschärfe eines makroskopischen Zeigers nicht in die Postulate eingehen.

Wenn wir nun behaupten, dass in der Nebelkammer eine Folge von Ortsmessungen erfolgt, dann erhalten wir nach jeder Messung mit Kollaps (im oben definierten Sinne) sicher Eigenzustände |x1>, |x2> … Diese Ortseigenzustände sind jedoch bzgl. des Impulses isotrop, d.h. in jeder Messung verliert das Quantensystem vollständig die Information über die vorherige „Ausbreitungsrichtung“. D.h. dieser Formalismus bedeutet trivialerweise, dass sich keine geradlinige Tröpfchenspur ausbildet, sondern dass ein Random Walk entsteht - im Widerspruch zur Beobachtung.

Dieser Widerspruch war bereits in den zwanziger Jahren bekannt - siehe das Paper - so dass Heisenberg in Richtung von „weak measurements“ argumentiert. Dabei wird keine exakt scharfe Ortsmessung angenommen, sondern eine „unscharfe“, wobei diese nicht auf die intrinsische quantenmechanische Unschärfe zurückzuführen ist, sondern auf die beschränkte Auflösung des Messgerätes. Dabei erhält man keine scharfen Messwerte, und das Projektionspostulat kann insoweit abgeschwächt werden, als dass nicht mehr auf einen exakten Eigenzustand projiziert wird sondern auf einen (unendlich dimensionalen) Unterraum, so dass letztlich ein bzgl. des Impulses anisotroper Zustand resultiert, der weiterhin eine Richtungsinformation trägt. In der Konsequenz erhält man nach Heisenberg wieder eine geradlinige Tröpfchenspur. Dies wird heute von vielen Physikern, die sich mit dem Messprozess befassen, als die korrekte Beschreibung aufgefasst.

Was also sind die Probleme?

1) Viele Quellen - Skripte zu Vorlesungen etc. - nennen weiterhin ohne Anmerkung die Postulate gemäß „Kopenhagen im engeren Sinne“, betrachten also nur exakt scharfe Messungen. Das ist, wie wir gesehen haben, falsch! Aber deswegen besteht weiterhin dieser Irrglaube auch unter vielen Physiker fort.

2) Die „weak measurements“ lassen sich nicht mehr axiomatisch fassen, denn man kann schlicht nicht mehr mathematisch präzise definieren, auf welchen Unterraum zu projizieren ist. Dies ergäbe sich je System erst mittels expliziter Berechnung, z.B. mittels Dekohärenz. Axiomatisch ist dies ungefähr so unbefriedigend, wie wenn ich im Grundgesetz einen Begriff verwenden würde, der jedoch erst in einer Rechtsverordnung der Stadt Nürnberg definiert ist.

3) Heisenberg argumentiert im Sinne von (2) ohne dies mathematisch präzise auszuführen, folgert daraus jedoch, dass Mott‘s Argumentation gemäß Kopenhagen zulässig sei; offensichtlich wäre es im vorliegenden Fall jedoch genau umgekehrt: wenn Heisenberg seine Methode präzise zu Ende führen würde, dann wäre gezeigt, dass „Kopenhagen“ mit der präzisen Berechnung Mott‘s und dem Experiment übereinstimmen würde.

4) Jede Art von Kollaps ist im vorliegenden Fall unnötig, wie man anhand von Mott‘s Berechnung erkennt. Diese Berechnung sind nach heutigen Verständnis übrigens extrem simpel, jeder Student mit Vorlesung QM 1 - also alle mit Diplom / Master - können sie verstehen, wenn da nicht (1) wäre.

Interpretationen wie Consistent Histories gehen genau in diese Richtung: axiomatische Präzisierung von „Kopenhagen“ als statistische Interpretation ohne Kollaps.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (26.06.21 um 17:01 Uhr)
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