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Alt 26.08.18, 10:00
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
Registriert seit: 04.10.2014
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Standard Warum eine agnostische Sicht der Physik Quatsch ist

Insbs. nach Entwicklung der Quantenmechanik und im Zuge der Entstehung der positivistischen Denkrichtung wurde die philosophische Haltung populär, die Physik liefere lediglich ein Instrument zur Berechnung von Vorhersagen und Messergebnissen. Damit einher geht sehr häufig ein Denkverbot, die Physik könne oder dürfe nicht darüber sprechen, wie sich die Natur tatsächlich verhält, sondern müsse sich darauf beschränken, diese Instrumente zu Anwendung zu bringen.

Dem möchte ich drei Argumente entgegen stellen:
1) Denkverbote u.ä. Dogmen sind offensichtlich Quatsch; insbs. in der Wissenschaft hemmen Denkverbote den Fortschritt
2) Die o.g. Haltung ist sicher einigermaßen verbreitet, deswegen noch lange nicht richtig; wir kennen unzählige historische Beispiele, die uns eines besseren belehren sollten
3) Der rein positivistische Standpunkt führt unmittelbar dazu, die Betrachtung unbeobachtbarer Konsequenzen einer Theorie als unwissenschaftlich abzulehnen; dann streichen wir diesen Wissenschaftlern sofort die Forschungsmittel, wenn sie sich mit Stringtheorie, Quantengravitation, dem Inneren von Schwarzen Löchern und ähnlichem befassen (oder sie dürfen weiter forschen, hören dann aber bitte auf, diesen Positivismus-Käse zu verbreiten)
4) Die angeblich so verbreitete Haltung führt zu absurden Konsequenz, die sich die Physiker, die sie vertreten, nie klar gemacht haben.

Zu (4) eine kleine Geschichte:

Gemäß der instrumentalistischen Haltung muss ich nicht wissen, warum ein mathematischer Werkzeugkasten = eine physikalische Theorie funktioniert; dies ist für den Wissenschaftler, der sich damit befasst, völlig irrelevant, solange die Berechnungen funktionieren und zutreffende Vorhersagen liefern.

Geben wir einem derartigen Wissenschaftler eine Sammlung von diversen komischen Formeln, ein paar Computerprogramme sowie eine Bedienungslanleitung und fordern ihn auf, dieses Sammelsurium auf physikalische Situationen anzuwenden; das Sammelsurium sei offen und flexibel anpassbar, d.h. man kann damit alle möglichen Dinge berechnen: Bahnkurven von Planeten, Mischungstemperatur Flüssigkeiten, elektromagnetische Phänomene, Quark-Gluonen-Plasma, die Masse des Higgs, ... Hawkingstrahlung, ... Dummerweise ist das Sammelsurium jedoch völliges Kauderwelsch, d.h. die Formeln fallen vom Himmel, enthalten tausende von magischen Zahlenwerten,# die keiner erklären kann, der Code der Computerprogramme ist unverständlich usf.

Der Wissenschaftler möchte dieses Sammelsurium verstehen. Dazu bieten wir eine Reihe von Seminaren an, die ihm jedoch eine große Enttäuschung bereiten: er erhält kein Warum, keine Herleitung der Formeln, kein Prinzip wie „actio = reactio“, kein „Prinzip der kleinsten Wirkung“, keine Symmetrie, keinen universellen Hamiltonoperator; er erhält lediglich das Wie, d.h. eine Anleitung zur Verwendung: Er muss z.B. ein Experiment am CERN in einem bestimmten Datenformat mit allen relevanten Angaben zu Detektoren, Stromversorgung, Schaltungen usf. in tausenden von Datenblättern und Zeichnungen in einem bestimmten Datenformat hinterlegen, dann ein paar Parameter wir die Beschleunigungerenergie eintippen, und er erhält als Belohnung hunderte von Diagrammen und Tabellen - die mit den Messungen sehr präzise übereinstimmen. Derartige Übungen sind der alleinige Gegenstand seiner Seminararbeit.

Das Sammelsurium liefert ihm z.B. eine Kurve mit einem Peak bei 30 TeV - und tatsächlich - nachdem der LHC in 20 Jahren diesbzgl. ertüchtigt wurde, erscheint auf dem Monitor ein derartiger Peak. Auf die Frage des nun schon deutlich gealterten Physikers, ob dies nun endlich das solange gesuchte Signal bzgl. der Supersymmetrie sei, erklären wir ihm, dass diese Frage offensichtlich sinnlos ist, da es im streng positivistischen Sinne nicht darum gehe, was da draußen ist, sondern lediglich darum, dass man das korrekt vorhersagen könne - und das sei ja nun mal der Fall gewesen; er solle sich also endlich damit zufrieden geben und mit diesem kindischen Warum-Gefrage aufhören.

Das Sammelsurium hat - im streng positivistischen Sinne - perfekt funktioniert.

Hat es dem Physiker darüberhinaus irgendeine Erkenntnis geliefert? erklärt es irgendwas? ist die Suche nach der Theorie von allem vorerst beendet? nichts von alledem! Nach dem ggw. Verständnis der Physiker von ihrer Disziplin ist das Sammelsurium schlichtweg Schrott, solange es keine diesbzgl. Erklärungen liefert und niemand versteht, warum es funktioniert.

Ein ernsthafter, überzeugter Positivist müsste diesen Schrott sowie das o.g. Seminar jedoch jubelnd begrüßen, da es ja exakt das liefert, was er sich wünscht - ein Instument, das alle Beobachtungen perfekt vorhersagt.

Wer also diesen positivistischen Schrott glauben will, kann dies gerne tun. Wer jedoch an Physik interessiert ist, ist auch an Erklärungen interessiert. Diese liefern immer eine Antwort auf ein Warum - zwar nie die letztgültige und nie mit absoluter Sicherheit, jedoch nach bestem Wissen und Gewissen. Ich denke, das untermauert meine Aussage, dass die o.g. positivistischen Denkverbote und die angeblich agnostische Grundhaltung Quatsch sind.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von Bernhard (26.08.18 um 11:20 Uhr) Grund: rs
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