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Alt 18.01.22, 02:01
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Abweichungen und Möglichkeiten in einem Multiversum?

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Da muss ich dir schon Recht geben, dich mit denen in einen Topf zu werfen war ungerecht und unnötig.
Danke

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Der Kern des Vorwurfs: Seit Jahrhunderten hören wir aus der Philosophie von "denknotwendigen" Dingen. Für Kant z.B. der euklidische Raum, und die Rezeption der SRT in den verschiedenen philosophischen Denkrichtungen spricht Bände - von Aristoteles ganz zu schweigen … in dieser Frage hatte ich eben den Eindruck, dass du aus einer philosophischen Tradition heraus argumentierst, nicht einer physikalisch-wissenschaftlichen. Ich denke, da wirst du mir auch zustimmen.
Nein

Ich habe zwei Gründe genannt, die nicht auf Traditionen zurückgehen.

Das erste Argument noch eher; es ist sicher nicht neu, entspringt jedoch nicht nur der Tradition, sondern auch eigenem gründlichen Nachdenken: Essentielle Aspekte und Phänomene meines Bewusstseins sind ausschließlich mir persönlich zugänglich und daher rein subjektiv. Man kann zwar (möglicherweise) eine objektive, mathematisch präzise Theorie formulieren, man kann jedoch gewisse Aussagen im Rahmen der Theorie, die sich auf diese rein subjektiven Phänomene beziehen, nicht objektiv testen; das kann nur jeder einzelne für sich selbst.

Alles weitere siehe die folgende Argumentation.

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Wir reden von Eigenschaften eines Algorithmus - und die sollen der wissenschaftlichen Methode nicht zugänglich sein?
Ein Algorithmus und einige seiner Eigenschaften sind der wissenschaftlichen Methode natürlich zugänglich.

Aussagen über das Bewusstsein können aus zwei Perspektiven untersucht werden, der objektiven funktionalen Außensicht sowie der subjektiven Innensicht. Zu letzterer gehören Aussagen wie „diese KI hat Bewusstsein“ oder „diese KI empfindet Scham“; zu erster dagegen Aussagen wie „diese KI verhält sich entsprechen unseres algorithmischen Modells, wenn dessen Zustand das Attribut Scham enthält“.

Alleine die KI selbst kann – möglicherweise – ihre eigenen „mentalen Zustände“ in den Blick nehmen und uns über ihre Zustände Informationen zukommen lassen. Wir können aus der Außensicht jedoch nicht überprüfen, ob die KI tatsächlich Scham empfindet, d.h. ob es sich für sie so anfühlt wie für uns, Scham zu empfinden.

Nun gibt es Philosophen, die ein „Sein hinter den Erscheinungen“ schlicht leugnen. Der von dir kritisierte Kant hat dafür aber – m.E. zurecht – den Begriff „Ding an sich“ geprägt, sozusagen als Platzhalter; in ähnlicher Weise verwendet man in der Philosophie des Geistes den Begriff „Quale“ für dieses „ich empfinde Scham“. Dass mir diese mentalen Zustände ausschließlich subjektiv zugänglich sind, ist m.E. naheliegend; objektiv zugänglich sind dagegen nur Phänomene wie „er verhält sich, als ob er Scham empfindet“.

Da man die Existenz dieser mentalen Zustände oder „Qualia“ weder logisch noch empirisch ausschließen kann, halte ich es für sinnvoll, sie zunächst als Platzhalter in einer Theorie zu behalten und sie später möglicherweise als inhaltsleer zu entlarven; ich kann jedoch keine Argumente erkennen, die dies logisch konsistent oder plausibel bewerkstelligen. Im Gegenteil, ich sehe eine dogmatische Position des Positivismus, aus der heraus „nicht objektiv erscheinende Phänomene“ schlicht geleugnet werden. Ich sehe Sprachphilosophen, die die Ablehnung eines – noch – unpräzisen Terminus mit seiner Nichtexistenz verwechseln. Ich sehe die Behauptung, „mentale Zustände seien mit neurobiologischen Zuständen identisch“, daher könne man den Begriff der „mentalen Zustände“ oder „Qualia“ getrost eliminieren. Allein, es bleibt eine Behauptung oder Hypothese.

Hätten wir ein vollumfänglich entwickeltes algorithmisches Modell des Bewusstseins, das alle Aspekte mentaler Zustände abbildet, so würde sich an der prinzipiellen nicht-Testbarkeit nicht das geringste ändern. Das Zuschreiben subjektiver mentaler Zustände aufgrund objektiv sichtbarer Phänomene ist rein logisch nicht zu rechtfertigen. Daher bleibt die These der Identität von mentalen und neurobiologischen Zuständen auch dann unbeweisbar und unwiderlegbar.

Beispiel Äther: dieser Begriff wurde nicht dogmatisch verworfen, sondern auf Basis eines präzisen Formalismus sowie dessen Überprüfung eliminiert. Nun haben wir jedoch für mentale Zustände wie „ich empfinde Scham“ weder einen präzisen Formalismus noch einen objektiven Test. Also hat ein Platzhalter wie „mentale Zustände“ oder „Qualia“ zunächst durchaus seine Berechtigung.

Beispiel Proton: dieser Begriff wird auch nach Entwicklung der QCD und dem Nachweis von Quarks und Gluonen gerne verwendet.

Wie weiter oben beschrieben bedeutet dies alles keineswegs, dass die simple Hypothese „geeignete künstliche neuronale Netze entwickeln Bewusstsein und haben mentaler Zustände wie Scham“ falsch sein muss. Sie ist für mich sogar plausibel, jedoch in wesentlichen Aspekten eben nicht testbar. Dies gilt analog für die Hypothese „das menschliche Bewusstsein entsteht alleine auf Basis biochemischer Prozesse“.

Umgekehrt ist für mich als Naturwissenschaftler die Hypothese „künstliche neuronale Netze können prinzipiell kein Bewusstsein entwickeln und haben keine mentalen Zustände wie Scham“ unplausibel, jedoch nicht widerlegbar. Dies gilt analog für die Hypothese „das menschliche Bewusstsein entsteht nicht alleine auf Basis biochemischer Prozesse“.

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Gefühle und Erlebnisse wären definitiv Gegenstand der Forschung – bis auf eine Untermenge der Größe Null, die sich durch das nicht präzisierbare Attribut, dass es das "wirkliche" Erleben sei, auszeichnet.
Aber für Gefühle und Erlebnisse hast du ein auf einer sigma-Algebra definiertes Maß

Es kommt doch auf die Perspektive an. Wenn ich Bewusstsein aus der Innenperspektive verstehen möchte, dann streite ich deine Aussage der "Untermenge der Größe Null" rundweg ab. Wenn ich die Außenperspektive einnehme, dann stimme ich dir eher zu.

Nur – ganz persönlich interessiert mich im Falle des Bewusstseins ganz besonders die Innenperspektive.

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Und ich habe auch nicht vor, die Nichtexistenz schwammig definierter, der wissenschaftlichen Methode angeblich nicht zugänglicher Entitäten zu widerlegen. Ich bin es ja nicht, der diese Dinge kategorisch ausschließt*, aber du bist es der ihre Existenz behauptet, du bist in der Beweispflicht.
Ich behaupte nicht ihre Existenz, ich lasse sie als Denkmöglichkeit zu und verwende sie als Platzhalter. Ich hoffe, das ist nun klar geworden.

Hätten wir ein vollumfängliches mathematisches Modell unseres Bewusstseins, ausgehend von physikalischen Prozessen bis hin zu mentalen Zuständen, so wären „Qualia“ der Platzhalter für uns subjektiv irreduzibel erscheinende Zustände wie „ich empfinde Scham“, die jedoch gemäß Modell reduzibel sind.

Selbst dann würden wir wahrscheinlich gut daran tun, diese Begriffe nicht zu eliminieren (siehe oben das arme Proton).

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*Natürlich schließe ich sie aus, keine Frage. Aber nicht kategorisch: Wenn man mir irgendwie beweisen könnte, dass da 1) tatsächlich etwas ist, das 2) nicht der wissenschaftlichen Methode zugänglich ist, dann bin ich bereit zu folgen. Aber dazu müsstest du (nicht ich) dieses Etwas präzise genug formulieren, dass man ausschließen kann, dass es nicht nichts ist.
Ich hoffe, meine Position ist klar geworden. Es geht nicht um den Beweis der Existenz einer neuartigen Entität, sondern um einen Begriff, der bestimmte mentale Zustände bezeichnet, die uns gegeben sind, für die wir jedoch keine Erklärung haben.

Eine Diskussion um ein ungelöstes Problem kann nur dann zu vernünftigen Ergebnissen führen, wenn man Probleme benennt, jedoch nicht, wenn man bereits Pickel bekommt, wenn man Problemen Namen gibt – „Qualia“, „Messproblem“ …

Nun zum zweiten Argument: unter der Annahme, dass der Verstand einer universellen Turingmaschine äquivalent ist – das wäre für den Verstand einer auf RNNs basierenden KI sogar beweisbar – ist nach Gödel nicht jede Frage, die dieses Bewusstsein formulieren kann, auch im Kontext dieses Verstandes beantwortbar. Wenn also die Hypothese bzgl. des Verstandes der KI zutrifft, und wenn wir diese Diskussion so präzise formalisieren können, dass unser Verstand bzw. eine KI sie parsen kann, dann haben wir diese Diskussion zugleich einer objektiven Methode zugänglich gemacht und sie in ein formales System übersetzt, von dem wir sicher wissen, dass darin bestimmte Fragen bzgl. dieses formalen Systems unbeantwortbar sind, sich also aller durch das formale System zugänglichen Methoden entziehen. Kurz: wenn unser Verstand algorithmisch arbeitet, kann er seinen Algorithmus nicht vollumfänglich verstehen. Bingo.

Natürlich kann ich ohne Kenntnis des formalen Systems nicht mal ansatzweise Aussagen konstruieren, die anfällig für dieses Problem sind; auch in der Mathematik sind wenige derartige Aussagen bekannt, und sie sind beileibe nicht einfach zu verstehen. Die Argumentation soll lediglich dazu dienen, zu zeigen, dass für einen algorithmischen Verstand Grenzen der Erkenntnis existieren, und dass es plausibel ist, dass diese gerade das Wesen des Verstandes betreffen. Bewusstseins als selbstbezügliche funktionale Einheit eines solchen Verstandes ist dafür wohl besonders anfällig.

Es bleibt – zumindest für mich – die Einsicht, dass Bewusstsein zugleich vollständig algorithmisch formalisierbar sein kann, der Algorithmus selbst dennoch nicht ermittelbar und für uns verstehbar ist. Das ist für mich die momentan plausibelste Einkreisung des Themenkomplexes. Eine dualistische Sichtweise mit einer unabhängigen Instanz „Geist“ lehne ich ab, obwohl ich sie nicht logisch ausschließen kann. Diverse verkürzende Sichtweisen lehne ich ebenfalls ab, insofern sie Problemen eher verbieten denn diskutieren wollen.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (18.01.22 um 08:29 Uhr)
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