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Alt 24.11.22, 12:19
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard Axiome der Quantenmechanik - orthodoxe Interpretation

Ich möchte im Folgenden kurz die üblicherweise verwendeten Regeln zur Quantenmechanik zusammenfassen und bzgl. der 'orthodoxen' bzw. sogenannten 'Kopenhagerer' Interpretation nach Bohr et al. kommentieren.

Kursiv gesetzter Text bezieht sich auf reale Systeme und deren Dynamik, Präparation und Messung, sowie tatsächlich messbare Größen d.h. Observablen sowie deren Messwerte.

Normal gesetzter Text bezieht sich auf rein mathematische Objekte, die die genannten physikalischen Systeme etc. in gewissem Sinne repräsentieren.


Konsens

1. Die Beschreibung eines Quantensystems erfolgt im Rahmen eines separablen Hilbertraumes

2. Der Zustand eines einzelnen isolierten Quantensystems wird durch einen normierten Vektor |q> als Element dieses Hilbertraumes beschrieben. In vielen praktischen Fällen entspricht dies einer Wellenfunktion q(x).

3. Die Zeitentwicklung eines einzelnen isolierten Quantensystems wird durch einen unitären Zeitentwicklungsoperator U(t) beschrieben; diese Regel ist vollständig äquivalent zur Schrödingergleichung

Speziell orthodoxe und verwandte Interpretationen - nicht allgemein akzeptiert

4. Eine beobachtbare Größe, d.h. eine sogenannte Observable eines Quantensystems wird durch einen selbstadjungierten Operator A repräsentiert, der auf die Zustandsvektoren wirkt.

5. Die möglichen Messwerte einer Observablen entsprechen dem Spektrum d.h. den verallgemeinerten Eigenwerten a des korrespondierenden selbstadjungierten Operators A, d.h.

(A - a) |a> = 0

6. Sei das Quantensystem in einem Zustand präpariert, der mittels eines Zustandsvektors |q> repräsentiert wird. Wird eine Messung einer Observablen, repräsentiert durch den Operator A, durchgeführt, so ist die Wahrscheinlichkeit p(a), den Messwert a zu erhalten, gegeben durch

p(a) = | <a|q> |²

Dies ist die sogenannte Bornsche Regel.

Verwandt damit ist die Regel, dass der Erwartungswert für die Observable A über viele Messungen an identisch präparierten Systemen gegeben ist durch

<A> = <q| A |q>

7. Nach einer Messung und insbs. im Falle aufeinanderfolgender Messungen am selben Quantensystemen kann eine Messung mit Messwert a aufgefasst werden als Präparation des Systems in einen neuen initialen Zustand, repräsentiert durch den Zustandsvektor |a>, der in der Folge für die weitere Zeitentwicklung verwendet wird.

Dies ist das sogenannte von-Neumannsche Projektionspostulat.


Zu Bedeutung und Varianten der Regeln.

(2) - dass ein einzelnes Quantensystem immer vollständig durch einen Zustandsvektor beschrieben wird, führt zusammen mit (3) und (7) zu Inkonsistenzen - siehe unten. Daher existieren Varianten dieser Interpretation, denen zufolge
2.a der Zustandsvektor nicht direkt ein einzelnes System repräsentiert, sondern lediglich unser Wissen über dieses System - oder
2.b der Zustandsvektor nicht ein einzelnes System sondern lediglich ein (reales oder gedachtes) Ensemble identisch präparierter Systeme repräsentiert (Ensemble-Interpretation).

Das von Neumannsche Projektionspostulat (7) kann in gewisser Weise motiviert werden durch die Betrachtung eines makroskopischen Messgerätes, dessen Zeiger durch Zustandsvektoren |Za> entsprechend der Messwerte a repräsentiert wird. Da die Mathematik der Quantenmechanik sogenannte Superpositionszustände zulässt, und diese sogar essentiell zur Beschreibung experimentell gesicherter Resultate sind, würde dies aufgrund von (3) zu Superpositionen makroskopischer Zeiger wie "zeigt nach ober und zeigt gleichzeitig nach unten" führen. Da dies experimentell offensichtlich ausgeschlossen ist, führte von Neumann das Projektionspostulat (7) ein - oft bezeichnet als "Kollaps der Wellenfunktion". In der o.g. Formulierung ist dieses Postulat streng genommen zu eng gefasst, wie Beispiele zur Ortsmessung zeigern:
i) Tröpfchen in einer Nebelkammer oder schwarze Flecken auf einer Photoplatte stellen keine exakt scharfe Messung mit einem exakten Eigenwert dar, sondern unscharfe Messungen.
ii) Speziell nach der Absorption eines Photons liegt im Zustand nach der Messung überhaupt kein Photon mehr vor, d.h. es ist sinnlos, einen wie auch immer gearteten Eigenzustand des Photons zu postulieren.
Das Projektionspostulat kann jedoch mittels geeigneter mathematischer Methoden modifiziert werden, so dass diesen Messungen Rechnung getragen wird. Das weiter unten zu diskutierende fundamentale Problem wird dadurch jedoch nicht gelöst.

Die Interpretationen gemäß 'Kopenhagen' haben je Physiker einen jeweils etwas eigenen Flair, z.B. hinsichtlich der dessen, was der Zustand exakt bedeutet - Repräsentant der Realität, Repräsentant unsere Wissens über die Realität, Repräsentant eines Ensembles. Insgs. stimmen jedoch alle darin überein, dass:
- die o.g. Regeln im wesentlichen d.h. bis auf Varianten und Interpretationen die gültigen Regeln darstellen
- die Quantenmechanik den Messprozess nicht vollumfänglich beschrieben kann; es existiert immer ein Rückgriff auf eine klassische Beschreibung des Messgerätes und der Messwerte
- die Quantenmechanik einen objektiv stochastischen Element enthält, d.h. dass die o.g. Wahrscheinlichkeiten nicht Ausdruck unserer Unkenntnis sondern ein Element der Natur selbst sind
- dieses Regelwerk der Quantenmechanik im Wesentlichen geschlossen, d.h. nicht verbesserbar ist
- die Quantenmechanik dahingehend vollständig ist, dass sie es erlaubt, für praktisch alle Phänomene detaillierte und zutreffende Berechnungsmethoden und Vorhersagen zur Verfügung zu stellen
- es nicht Aufgabe der Quantenmechanik sei, mehr als das zu leisten, d.h. insbs. nicht die Frage zu beantworten, wie sich ein System ohne Beobachtung bzw. Messung tatsächlich verhält

Insofern sind viele Anhänger dieser 'orthodoxen Lesart' auch heute noch mit diesem Regelwerk zufrieden, da es in der Praxis bisher immer funktioniert hat. Einwände von Schrödinger, Einstein u.a., die Quantenmechanik müsse z.B. eine vernünftige Aussage treffen, in welchem Zustand sich die arme Katze in der Kiste vor der Öffnung derselben denn wirklich befinde, lehnen sie als letztlich unwissenschaftlich ab, da sich Wissenschaft nur an objektiv überprüfbaren Fakten zu orientieren habe - und das ist bei einer geschlossenen Kiste eben nicht der Fall.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (24.11.22 um 12:47 Uhr)
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