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Alt 20.04.15, 08:12
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Frontalangriff auf die wissenschaftliche Methode

Zitat:
Zitat von TheoC Beitrag anzeigen
Und damit meine ich nicht irgend welche philosophischen Erkenntnisse, sondern einfach pragmatisch nach Popper "Vorhersagen" die "Messbar" sind, die sich aus bisherigen Theorien nicht ableiten lassen.

Ich dachte bisher das die VWI keine solche zusätzlichen Aussagen treffen kann ...
Doch, das kann sie, leider jedoch wohl nur prinzipiell, nicht praktisch. Weil das so wichtig ist, erkläre ich das etwas mehr im Detail.

Entsprechend orthodoxer QM sowie Everettscher QM entwickeln sich quantenmechanische Zustände gemäß Axiom 3, d.h. die Zeitentwicklung erfolgt unitär:

"Zustand(t) = U(t) * Zustand(0)"

Dabei ist "Zustand" gemäß Axiom 1 ein eindimensionaler Vektor in einem Hilbertraum. Seine Zeitentwicklung ist letztlich eine Kurve, die der Vektorpfeil auf eine (i.A. unendlichdimensionale) Einheitskugel zeichnet. Die Zeitenwicklung wird mittels des Operators U(t) = exp(-iHt) beschrieben, wobei H dem Hamilton- bzw. Energie-Operator entspricht (gem. Axiom 2 einer speziellen Observablen). Diese Zeitentwicklung ist also stetig und deterministisch! Gemäß der Everettschen QM ist sie das immer und in jeder Situation bzw. für jedes beliebige System.

Gemäß der orthodoxen QM ist sie das nur, solange keine Messung durch geführt wird! Wird eine Messung durchgeführt, was im wesentlichen der Wechselwirkung mit einem Messgerät sowie einer Beobachtung entspricht, kollabiert der "Zustand(t)" unstetig und zufällig in einen anderen Zustand, der einem Eigenzustand der gemessenen Observablen entspricht. Die Zeitentwicklung des Zustandes im Zuge der Messung (entsprechend dem Projektionspostulat 4) steht also im Widerspruch zur Zeitentwicklung vor (und nach) der Messung.

Die orthodoxe QM hat demnach zwei Probleme:
A) Sie muss erklären, was eine "Messung", also eine Wechselwirkung mit einem Messgerät, von einer normalen Zeitentwickung unterscheidet; warum soll das Elektron, wenn es mit einem Messgerät interagiert, sich gemäß (3) verhalten, wenn ich das Messgerät ausschalte, aber gemäß (4), wenn ich es einschalte?
B) Wie kann (3) und (4) nebeneinander existieren, obwohl sie sich doch offensichtlich mathematisch widersprechen? Wie kann ein inkonsistentes, widersprüchliches Axiomensystem unserer physikalischen Erklärung zugrundeliegen?
Die Antwort auf (B) ist der wortreiche Verweise auf "Messung", d.h. auf (A). Aber (A) kann nicht beantwortet werden, außer durch eine willkürliche Entscheidung des erklärenden Physikers, dass hier dieses und dort jenes gilt, weil es so sein muss, da es andernfalls nicht funktionieren würde. Diese Situation ist seit nunmehr 90 Jahren genau so, sie ist unbefriedigend und ungelöst, und sie ist wohl in diesem Sinne auch unlösbar!

Der Ausweg der Everettschen QM ist, (4) fallenzulassen und (3) universelle Gültigkeit zu verschaffen.

Wie kann nun die VWI experimentell von der orthodoxen QM unterschieden werden? Einfach indem man eine Messung "rückwärts ablaufen lässt". Man stelle also eine Situation her, gemäß der die orthodoxe QM einen Kollaps vorhersagt. Bezeichnen wir den Kollaps mit K, so sieht die Zeitentwicklung von 0 nach t und weiter zu T wie folgt aus: zunächst U(t) von 0 nach t, dann der Kollaps K, dann weiter mit U(T-t). Ohne Kollaps, d.h. nach Everett gilt U(t), kein K, dann weiter mit U(T-t); formal ist das

U(T-t) K U(t)

sowie

U(T-t) U(t) = U(T)

Die beiden Zeitentwicklungen unterscheiden sich!

Dumm ist nur, dass ja auch Everett behauptet, dass der für uns sichtbare Zweig eines Zustandes der Bornschen Regel gehorcht, während der Rest sozusagen für uns unsichtbar wird. Dies kann man gemäß der Dekohärenz inzwischen sogar quantitativ und experimentell recht gut belegen! D.h. Bis hier her sind beide Formulierungen mathematisch inäquivalent, jedoch experimentell ununterscheidbar!

Der Trick besteht nun darin, das Experiment bis zu einer Zeit 2T exakt rückwärts ablaufen zu lassen, also alle Bewegungen, Prozesse umzukehren. Nach der Everettschen QM muss, da U unitär ist, exakt der ursprüngliche Zustand wieder entstehen. Nach der orthodoxen QM resultiert aus dem zweimaligen Kollaps sicher ein anderer bei 2T als bei 0. D.h. beide Versionen der QM unterscheiden sich experimentell und sind somit nicht äquivalent.

Nun zum Problem, über dessen Lösung der Weg nach Stockholm führt: Die Problematik steckt in dem kleinen Wörtchen "exakt". Dieses umfasst nämlich die exakte zeitliche Umkehrung aller beteiligten Prozesse, d.h. z.B. des gemessenen Elektrons, des Apparates, der Umgebung (Luft, Wärmestrahlung, ...) sowie ggf. des Beobachters. Es genügt also nicht, das Elektron bei T exakt zu reflektieren, man müsste dies für jeden beteiligten Freiheitsgrad durchführen - und das ist praktisch unmöglich!

Ist es das? Nein, natürlich nicht! Derartige Experimente werden seit Jahrzehnten durchführt, und sie bestätigen schon immer die Everettsche QM, d.h. sie widerlegen die orthodoxe QM, da der Effekt eines Kollapses noch nie gemessen wurde. Nur leider funktionieren diese Experimente immer nur, wenn das insgs. betrachtete System mikroskopisch und isoliert ist, d.h. wenn gerade kein "Messprozess" stattfindet, für den die orthodoxe QM einen Kollaps postuliert.

Das ist genau das Problem: mikroskopisch funktionieren sowohl die Everettsche QM als auch die orthodoxe, da letztere hier nicht von Messung und von Kollaps redet; und makroskopisch funktioniert sicher nur eine von beiden, wobei der Unterschied weit außerhalb unserer experimentellen Fähigkeiten liegt.

Ein wissenschaftstheoretischer Nachteil der orthodoxen QM besteht in deren Selbstimmunisierung. Immer wenn ein derartiges Experiment durchgeführt wird, mit immer größeren Quantensystemen, kann die orthodoxe QM ausweichen, indem sie für dieses Experiment den Kollaps wieder so setzt, dass alles für sie passt. Denn die Setzung des Kollapses, die Definition "bis wohin (3) und ab wann (4) gilt", ist willkürlich und liegt im Ermessen desjenigen, der das Experiment interpretiert. Diese Selbstimmunisierung gilt nicht für die Everttsche QM.

Die Everettsche QM kann also an zwei Punkten tatsächlich scheitern bzw. falsifiziert werden:
i) die Bornsche Regel ist nicht bzw. nicht vernünftig als Theorem ableitbar
ii) sie wird im o.g. Sinne experimentell falsifiziert

Insofern halte ich die Everettsche QM für die im wissenschaftstheoretischen Sinne bessere Alternative (auch wenn die Konsequenzen nach unseren Alltagsbegriffen eine Zumutung darstellen - aber das war bei der QM schon immer so ;-)
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
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