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Alt 16.01.22, 17:35
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Abweichungen und Möglichkeiten in einem Multiversum?

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Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Die für mich grundsätzliche Frage betrifft die "Reichweite" des Begriffs Algorithmus angewandt auf das Gehirn.
Ich verstehe unter Algorithmus ein terminierendes Programm auf einer universellen Turingmaschine, letztlich äquivalent zu einen Computerprogramm in einer genügend mächtigen Programmiersprache (Pascal, C, Java, C#). Man kann zeigen, dass dies auf eine große Klasse von NNs zutrifft, insbs. auf rückgekoppelte neuronale Netze, d.h. Algorithmen, Turingmaschinen, Computerprogramme und NNs können exakt die selben Probleme lösen, Berechnungen durchführen und Daten verarbeiten, lediglich unterschiedlich effizient.

Der Algorithmus eines NNs f auf dem Input x mit Output y lautet im wesentlichen (y,f’) = f(x). Genauer verwendet das NN einen großen Satz an Parametern p, d.h. f(x) = f(x,p). f ist dabei eine Ansammlung einfacher algebraischer Funktionen a. Man kann die erste Formel damit auch schreiben als (y,p’) = f(a; x,p). Diese Funktion wird je Durchlauf mit neuem Input angestoßen, die alten Parameter durch die neuen ersetzt, d.h. die Parameter werden erlernt. Der starre Algorithmus besteht in der Zusammenschaltung der Funktionen a.

Man darf sich auch nicht täuschen lassen. Zwar erscheint die Funktionalität des NNs wie Zauberei, allerdings steckt dahinter letztlich triviale Algebra. Ein paar Schüler mit Taschenrechnern können ein NN simulieren.

Evtl. gibt es einige Subtilitäten zu betrachten. Z.B. terminiert das Programm des Gehirns erst mit dem Tod, allerdings liefert es je Zeiteinheit einen endlichen Output, d.h. es existieren sozusagen terminierende Unterprogramme. Ob da mathematische noch mehr Potential drin steckt, weiß ich nicht.

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Du hast dich damit intensiv beschäftigt und weißt vermutlich ob es zutrifft, dass es einen gewissen Konsens gibt, Bewusstsein als emergentes Phänomen zu verstehen.
Es gibt keinen übergreifenden Konsens, allenfalls unter vielen Naturwissenschaftlern und einigen Philosophen. Andere Philosophen wiederum lehnen die Idee kategorisch ab. Und wieder andere sehen den Mittelweg, dass Bewusstsein ein emergentes Phänomen ist, sich jedoch unserem Verständnis entzieht (meine Meinung)

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Aber dann haben wir eine neue Qualität mit einer übergeordneten Funktion. Diese noch als Algorithmus zu begreifen dürfte schwer fallen.
Was meinst du mit “übergeordnet”?

Ich habe oben geschrieben, wie ich mir den Verstand funktional und algorithmisch vorstelle, als Ansammlung Input-zu-Output transformierende Algorithmen, die ihren Output wechselweise als Input verwenden. Eine funktionale Einheit operiert auf dem Input des Sehnervs, andere auf deren Output usf. Ich sehe das auch nicht strikt hierarchisch wie in einer konventionellen Software-Architektur.

Damit wäre der Verstand ein komplexer Algorithmus (erste These) den wir jedoch aufgrund seiner Komplexität nicht begreifen können (zweite These) und der - weil ein genügend mächtiger Algorithmus, sich insbs. nicht selbst vollumfänglich verstehen kann (dritte These nach Gödel).

Man sollte sich hüten, das Bewusstsein als übergeordnete Entität zu verstehen, das die unterlagerten Vorgänge sozusagen in den Blick nimmt. Vergleiche das zum Beispiel mit dem kollektiven, intelligent erscheinenden Verhalten bei Ameisen; die Intelligenz ist keine übergeordnete Entität.

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Kannst du dir vorstellen, dass ein NN und mag es noch so komplex sein, eine Berechnung abbricht und "entscheidet", etwas anderes zu machen?
Aufgrund der o.g. Äquivalenz ist das möglich - eine funktionale Einheit im NN selektiert auf Basis des Inputs anderer Einheiten sowie externer Sinnesreize eine neue Aufgabe aus einem Aufgabenvorrat - jedoch kann ich mir das nicht vorstellen.

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Nein, denn dazu müsste man wissen, wie genau dieses emergente Phänomen zustande kommt. Wüsste man das, dann erst könnte man über Analogien zu NN nachdenken.
Im Falle des Bewusstseins würde das ja bedeuten, es verstanden zu haben, was ich aus den genannten prinzipiellen Gründen für unmöglich halte.

Ich frage mich, warum man nach etwas “jenseits von Algorithmen” suchen sollte.
1) weil man Funktionen des Gehirns kennt, von denen hinreichend klar ist, dass der Begriff des Algorithmus nicht ausreicht: davon habe ich noch nie gehört
2) weil Algorithmen genügend gut verstanden sind, unser Verstand jedoch nicht; umgekehrt: wir verstehen sie nach Church-Turing und Gödel so gut, dass wir Grund zu der Annahme haben, dass Algorithmen genügend komplex sind um einen für den Verstand nicht begreifbaren Verstand hervorzubringen
3) weil uns dieses “jenseits von Algorithmen” eine Zutat liefert, die es uns ermöglicht, (2) zu umgehen; dazu kenne ich mich mit “trans-Turing” nicht gut genug aus

Mir erscheinen (1) und (2) nahezulegen, es mit dem Begriff des Algorithmus zu versuchen, d.h. damit die Funktionen des Gehirns besser zu verstehen. Man kann damit sicher noch sehr weit kommen - jedoch innerhalb gewisser Grenzen; Qualia sind für mich der wesentliche Platzhalter dafür.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (16.01.22 um 18:38 Uhr)
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