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Alt 24.06.21, 12:58
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
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Standard AW: Sind die Interpretationen der Quantenmechanik mehr als nur Geschichten?

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Aber was trägt sie zum Verständnis der Reduktion des quantenmechanischen Zustands bei?
Sie liefert Argumente, warum dieser ontisch verzichtbar ist, zugleich jedoch epistemisch gültig bleibt. Siehe unten.

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Darum geht es doch beim Messproblem.
Nur um den Kollaps? Nein, das ist zu eng gefasst.



Zum einen umfasst das Messproblem mehrere Teilprobleme:
1) welche Messergebnisse können auftreten?
2) wann, warum, mit welcher Wahrscheinlichkeit ... tritt ein konkretes Messergebnis auf?
3) wie wird das System während und nach der Messung beschrieben?

Anders gesprochen, zu begründen sind die Postulate
1) Eigenwerte a als mögliche Messwerte
2) Bornsche Regel p(a) = <ψ|a><a|ψ>
3) von Neumannschen Projektionspostulat d.h. Kollaps |ψ> → |a><a|ψ>

Die Dekohärenz besagt:
1) der spezifische Hamiltonoperator des Messgerätes selektiert die möglichen Zeiger-Zustände und Messwerte
2) die Norm je Komponente (Unterraum) liefert die Wahrscheinlichkeit
3) das Projektionspostulat wird zunächst weder postuliert oder abgeleitet noch ausgeschlossen

Damit löst die Dekohärenz den Punkt (1). Sie liefert zusammen mit Gleason's Theorem die eindeutige und phänomenologisch zutreffende mathematische Regel zur Berechnung der Wahrscheinlichkeiten in (2) - bzw. eine geeignete Erweiterung - jedoch keine Begründung, warum überhaupt Wahrscheinlichkeiten auftreten. Außerdem lässt sie einerseits das Kollapspostulat zu, andererseits erlaubt sie auch den Verzicht darauf; im ersten Fall liefert sie wie bei (2) die Unterräume, auf die zu projizieren ist und motiviert zusammen mit (1) die Form von (3); im zweiten Fall löst sie nach Meinung von Zeh, Carroll, Wallace et al. das Problem, warum man von einem epistemischen d.h. lediglich wahrgenommenen Kollaps ausgehen kann, obwohl tatsächlich kein ontischer Kollaps stattfindet.

Die Dekohärenz trägt demnach mittels des selben Formalismus in unterschiedlicher Weise zu verschiedenen Interpretationen bei. Es ist eine Frage der Interpretation, welchen Beitrag wir als natürlicher oder kohärenter empfinden. In den meisten Fällen löst die Dekohärenz jedoch einen Teil der Probleme - Ausnahme s.u.

Insofern Zustimmung zu diesem Statement

We have argued that, within the standard interpretation of quantum mechanics, decoherence cannot solve the problem of definite outcomes in quantum measurement.

bzgl. eines Teilproblems im Rahmen einer speziellen Interpretation. Auch Zeh betont mehrfach, dass die Dekohärenz das Messproblem nicht vollständig löst, in Teilen jedoch zu einer Lösung maßgebliche Beiträge liefert.

(soweit ich mich erinnere bleibt Schlossauer bzgl. der Interpretationen neutral)

Eine mögliche Lesart ist also, dass die Dekohärenz zur Erklärung beiträgt, warum der Kollaps verzichtbar ist. Das umfasst zwei Aspekte: der "ontische" Kollaps ist sicher verzichtbar - siehe unten; ein lediglich "epistemischer" Kollaps wird zumindest teilweise erklärt (Zeh, Carroll, Wallace et al.).



Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Ich sehe nicht, dass Dekohärenz eine der Interpretationen der QM stützt. Denn diese scheiden sich am Verständnis des Kollapses.
Zunächst mal musst du verstehen, dass der Kollaps im Sinne von Neumanns nach Meinung vieler Physiker verzichtbar ist - über die MWI hinaus. Wenn man ausschließlich an der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten interessiert ist, dann sind (1) und (2) ausreichend, (3) ist überflüssig.

Ein explizites Beispiel ist das Mott-Problem, d.h. die Entstehung der Tröpfchenspuren in einer Blasenkammer:

https://en.wikipedia.org/wiki/Mott_problem

Wenn man die Wechselwirkungen des Elementarteilchens mit den Atomen und deren Ionisation als wiederholte Ortsmessung auffasst, dann fordert von Neumann einen Kollaps in einen Ortseigenzustand. Dieser ist bzgl. des Impulses isotrop, d.h. als Ergebnis folgt keine geradlinige Spur sondern ein isotroper Random Walk. In der o.g. Formulierung nach von Neumanns ist (1) demnach explizit falsch.

Mott (1929!) löst das Problem explizit ohne Kollaps. Er berechnet Korrelationen, d.h. letztlich bedingte Wahrscheinlichkeiten P(z | x, y), d.h. die Wsk. für z unter den Annahme x und y. Im Ergebnis ist die Wahrscheinlichkeit für mehrere nicht auf einer Linie liegende Tröpfchen sehr nahe Null.

Heisenberg hat wohl in Richtung von "weak measurements" gedacht und die o.g. Kollapsregel entsprechend modifiziert (ich habe keinen Zugriff auf das Paper). Es sollte darauf hinauslaufen, dass lediglich auf einen Unterraum statt auf einen Ortseigenzustand projiziert wird, dieser Unterraum bzgl. des Impulses anisotrop bleibt und somit eine geradlinige Spur resultiert. Dies hat den Schönheitsfehler, dass die Vorhersagbarkeit leidet, da man unter Verwendung geeigneter Unterräume lediglich ex post eine Erklärung erhält, während Mott ohne weitere Annahmen vorgeht.

Anyway, das Mott-Problem ist ein Beispiel, das üblicherweise als Argument für den Kollaps im Falle aufeinanderfolgender Messungen am selben System angeführt wird, das jedoch in der Tat gegen einen Kollaps verwendet werden kann. Die Argumentation von Mott kommt natürlich ohne Dekohärenz aus.

Neben der MWI kommen insbs. die Consistent Histories sowie die Ensemble Interpretationen ohne Kollaps aus. Ballantine hat letztere maßgeblich entwickelt und zeigt anhand weiterer Beispiele, wie u.a. auch der Quanten-Zeno-Effekt gegen den Kollaps interpretiert werden kann (wiederum habe ich keinen Zugriff auf das Paper).



Wenn man also akzeptiert, dass der Kollaps als mathematische Regel nicht notwendig ist, um korrekte Messwerte und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, dann bleibt darüberhinaus die Frage, ob der Kollaps im ontischen Sinne ebenfalls verzichtbar ist (er wäre dann jedoch logisch inkonsistent).

Dabei lautet die Argumentation der VWI, ausgehend von der Dekohärenz, dass die durch die environment-induced superselction (einselection, Zurek) ausgezeichneten Zweige genau die Eigenschaften haben, die man für einen "epistemischen" Kollaps benötigt. Im Falle der Nebelkammer würde die Dekohärenz die in der Projektion zu verwendende Unterräume liefern.

D.h. ich kann entweder
a) die Dekohärenz nutzen, um die Unterräume zu berechnen, auf die ich im Zuge eines Kollapses projiziere, oder
b) nicht projizieren
In beiden Fällen erhalte ich die selben Beobachtungen.

(betrachte zwei Wellenpakete - klassisches Licht - die sich in entgegengesetzter Richtung auseinander bewegen; ob du als Beobachter eines Wellenpaketes das andere wegpostulierst oder seine Existenz akzeptierst läuft bzgl. der Phänomenologie auf's selbe raus)

Die Aussage der MWI lautet also im wesentlichen, dass sich für die Quantenmechanik ohne (1) bis (3) sowie unter Einbeziehung der Dekohärenz ein axiomatisch einfacheres und insgs. schlüssigeres Bild ergibt, als für die Quantenmechanik mit (1) und (2); dem kann man zumindest in soweit folgen, als man schlecht Postulate wie (1) oder (2) ad hoc einführen kann, wenn man erst mittels komplizierter Berechnung die Entitäten erhält, die in (1) oder (2) zu verwenden sind. Die Dekohärenz verkompliziert die Argumentation an dieser Stelle maßgeblich - weil sie einen Teil der Probleme löst (klingt komisch, ist aber so).



Einige Dinge sollten klar sein: der Kollaps ist in praktisch jeder Form verzichtbar; er verbleibt lediglich als praktische Rechenregel, deren Anwendbarkeit aber je Einzelfall zu prüfen ist; die Dekohärenz sowie andere Effekte liefern dafür überzeugende Argumente; in einigen Fällen verkompliziert der Kollaps die Argumentation (nach Ballantine wird sie sogar inkonsistent oder falsch); einige nicht-ontische sowie die MWI als ontische Interpretation kommen explizit ohne Kollaps aus; keine Interpretation, die die Dekohärenz ignoriert, liefert einen Beitrag zu einer echten Erklärung des Messproblems; jeder Versuch einer Kollapsinterpretation erscheint heute doch sehr fragwürdig; jeder Erklärungsversuch, der die hier diskutieren Punkte nicht berücksichtigt, kann nicht ernstgenommen werden.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (24.06.21 um 15:16 Uhr)
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